Offener Brief zur Bürgerumfrage 2021

Sehr geehrte Menschen des Verwaltungsausschusses der Landeshauptstadt Stuttgart,

mit großem Erstaunen haben wir die Fragen zur „Toleranz“ der Stuttgarter Stadtgesellschaft gegenüber lsbttiq Menschen in der aktuellen Bürgerumfrage 2021 zur Kenntnis genommen.

In den letzten Jahren hat sich eine sehr gute und produktive Zusammenarbeit zwischen der Stuttgarter lsbttiq Community und der Landeshauptstadt Stuttgart etabliert. Wir möchten dem Gemeinderat an dieser Stelle nochmals herzlich für das große Vertrauen in die Expertise und Arbeit der Organisationen der Stuttgarter Community danken, welches er mit der breiten Förderung der LSBTTIQ Beratungsstellen, Organisationen und Kulturveranstaltungen bekräftigt hat. Daher bedauern wir außerordentlich, dass diese Expertise nicht genutzt wurde, um den nun durch die unglückliche Wortwahl in der Bürgerumfrage 2021 entstandenen Schaden zu verhindern. Auch kommen wir trotz des guten Vertrauensverhältnisses und der grundsätzlichen Unterstützung des Impulses, Fragen zur Lage von lsbttiq Menschen in Stuttgart in die Bürgerumfrage aufzunehmen, nicht umher, unsere Kritik an der Fragestellung und dem Vorgehen zu äußern.

Unsere Kritik bezieht sich auf die Fragen 46 und 47 der Bürgerumfrage 2021.

Frage 46: „Wie beurteilen Sie die in Stuttgart vorherrschende Toleranz gegenüber lesbischen, schwulen, bisexuellen, transsexuellen, transgender, intersexuellen und queeren Menschen?“

Bei dieser Fragestellung irritiert uns zunächst das Wort: „vorherrschend“. Wir fragen uns, woher die Annahme stammt, dass in Stuttgart eine tolerante Haltung gegenüber queeren Menschen „vorherrschend“ sei. Unserer Kenntnis nach, gibt es hierzu keine wissenschaftlichen Studien, die diese Annahme untermauern würden. Gerne regen wir eine solche an.

Die Frage beruht unserer Ansicht nach auf einem „Bauchgefühl“, schafft durch die deutliche Wertung ein Framing, ist suggestiv und weicht damit von der geforderten Neutralität eines seriösen Fragebogens ab.

Frage 47: „Übertreiben es in Stuttgart Ihrer Meinung nach viele mit ihrer Toleranz gegenüber lesbischen, schwulen, bisexuellen, transsexuellen, transgender, intersexuellen und queeren Menschen?“

Die Formulierung dieser Frage bedient unserer Ansicht nach das queerfeindliche
und rechtspopulistische Narrative, der Kampf um gleiche Rechte von Menschen sei unangemessen oder „übertrieben“. Gleiche Rechte, Teilhabe und Sichtbarkeit sind NIE unangemessen oder übertrieben!

Das Wort „Toleranz“ (lat. tolerare) bringt zudem lediglich eine „Duldung“ zum
Ausdruck. Eine Haltung die das grundgesetzliche Mindestmaß gesellschaftlichen Zusammenlebens zum Ausdruck bringt und u.a. über Art. 1 und 3 des Grundgesetzes verpflichtend ist. Die Fragestellung suggeriert jedoch eine „Verhandelbarkeit“ dieser Verpflichtung. Als Gedankenexperiment schlagen wir vor, in der Fragestellung statt „queerer Menschen“ andere Gruppen, wie „Frauen“, „Migrant*innen“ oder „Menschen mit Behinderung“ einzufügen. „Übertreiben es in Stuttgart viele mit ihrer Toleranz gegenüber Rollstuhlfahrer*innen?“ Eine solche menschenverachtende Fragestellung hätte in einer Bürgerumfrage einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Sie wäre sofort als verletzend erkannt und ausgeschlossen worden. Dass dieselbe Frage mit der Gruppe der lsbttiq Menschen scheinbar problemlos möglich ist, zeigt wie weit wir von einem echten Verständnis queerer Lebensrealitäten, der notwendigen Sensibilisierung gegenüber marginalisierten Gruppen und der Sichtbarkeit queeren (Er-)Lebens entfernt sind.

Völlig unverständlich ist für uns zudem die Zielsetzung dieser Fragestellung. Soll abgefragt werden, ob lsbttiq Menschen wieder mehr ausgegrenzt werden sollten? Welche Schlussfolgerungen lassen sich aus einem „Nein“- bzw. einem „Ja“-Ergebnis ableiten? Schlimmstenfalls würde ein mehrheitliches „Ja“-Ergebnis rechtspopulistischen und queerfeindlichen Gruppierungen eine repräsentative, „wissenschaftliche“ Untersuchung zur Bestätigung ihrer menschenfeindlichen Haltung liefern. Wir bezweifeln stark, dass dies das Ziel der Befragung gewesen sein kann.

Die Formulierung könnte zudem bei Bürger*innen überhaupt erst die Vorstellung erzeugen, „Toleranz“ gegenüber einer Gruppe sei verhandelbar und stünde zur Disposition. Die Fragestellung ist somit geeignet, Vorurteile und Haltungen zu erzeugen oder zu befördern, an deren Abbau Stadtverwaltung, Gemeinderat, queere Organisationen und Antidiskriminierungsstellen seit Jahren mühsam arbeiten.

Wir unterstellen keiner der beteiligten Gremien, Ämter, demokratischen Fraktionen oder Einzelpersonen queerfeindliche Haltungen — dafür kennen wir uns zu gut, arbeiten zu gut zusammen und haben gemeinsam Stuttgarts Vielfalt zu gut gefördert. Dennoch fragen wir uns, warum bei einem so sensiblen Thema offenbar das Vertrauen in die Expertise der lsbttiq Community, der Gleichstellungsstelle oder des AK LSBTTIQ nicht vorhanden war und diese nicht eingebunden wurden.

Wir erwarten zur Vermeidung einer Wiederholung in Zukunft die konsequente Einbindung der existierenden Strukturen, wie des AK LSBTTIQ und der Abteilung für Chancengleichheit und Diversity, bei Fragestellungen rund um lsbttiq Themen.

Wir erwarten zudem, dass die Auswertung der Fragen 46 und 47 unterbleibt und weder veröffentlicht noch verwendet wird.

Für Gespräche stehen wir selbstverständlich jederzeit gerne zur Verfügung.

Im Vertrauen auf eine weiterhin gute Zusammenarbeit, mit besten Grüßen

Joachim Stein
Weissenburg e.V. ZENTRUM LSBTTIQ STUTTGART, geschäftsführender Vorstand

Detlef Raasch
IG CSD Stuttgart e.V., geschäftsführender Vorstand

Katharina Binder
LSVD Baden-Württemberg e.V., Landesvorstand

Holger Edmaier
Projekt 100% MENSCH gUG, Geschäftsführer

Marion Römmele
Frauenberatungs- und Therapiezentrum Stuttgart, Mitglied im geschäftsführenden Team

Alex Leo Häfner
Mission Trans, Koordinator