„Auch fühlte ich mich immer mehr zu meinem Geschlecht hingezogen“

Forschungsprojekt zur Auffindbarkeit lesbischer Frauen in Psychiatrien während des Nationalsozialismus

Ein Projekt des Landesnetzwerks LSBTTIQ Baden-Württemberg / des LSBTTIQ-Zentrum Weissenburg Stuttgart e.V.

Claudia Weinschenk im Universitätsarchiv Tübingen

Der Hintergrund:

In den vergangenen Jahren wurden viele Forschungsprojekte durchgeführt, die sich der Aufarbeitung der Verfolgungsgeschichte von Homosexuellen in nationalsozialistischer Zeit widmeten. Die Projekte beschäftigten sich aber, auch der besseren Quellenlage aufgrund der Kriminalisierung durch § 175 geschuldet, fast ausschließlich mit männlicher Homosexualität. Auch in dem von der Universität Stuttgart (Prof. Pyta) aktuell durchgeführten LSBTTIQ-Forschungsprojekt in 3 Modulen wurde das Modul, das der Verfolgung lesbischer Frauen gemeinsam mit trans- und intersexuellen Menschen gewidmet sein sollte, auf einen nicht definierten späteren Zeitpunkt verschoben.

Weibliche Homosexualität war in Deutschland niemals durch den § 175 verboten worden. Eine Verfolgungsgeschichte von frauenliebenden Frauen im Nationalsozialismus ist deshalb nur unter Schwierigkeiten zu erstellen. Lesben kamen nicht oder nur selten mit der Begründung “lesbisch” in Konzentrationslager. und wurden dort gequält und getötet. Sie wurden nicht mit einem rosa Winkel gekennzeichnet. Bislang wurden nur wenige Akten gefunden (ungefähr ein Dutzend) , die die Vermutung rechtfertigen, dass lesbische Frauen unter dem Oberbegriff “Asozial” in ein KZ eingeliefert wurden.

Die Erforschung der Verfolgung von frauenliebenden Frauen im Nationalsozialismus muss unter anderen Prämissen erfolgen. Sie muss am Alltagsleben von Lesben ansetzen, muss Repressionen vielfältigster Art miteinbeziehen. “Verfolgung” von Lesben ist nicht gleichzusetzen mit “Verfolgung” von Schwulen. Auch wenn Lesben nicht (oder kaum)  direkt durch § 175 bedroht waren, so waren sie doch von Repressionen, Unterdrückung, Einschüchterung, von ständiger Gefahr der Denunziation, von Verhaftung, Verhören und Ausgrenzung bedroht. 

Die Erforschung der Verfolgung frauenliebender Frauen im Nationalsozialismus ist schwierig. Es müssen neue Quellengruppen herangezogen werden. Die KZ-Akten von Frauen (vor allem die mit dem Überbegriff “Asozial”) müssen auf Hinweise untersucht werden, ebenso wie Akten von Arbeitshäusern und -lagern und die von psychiatrischen Einrichtungen. Kriminalpolizeiliche Akten und Gerichtsunterlagen über Kuppelei, Prostitution, Unzucht mit Abhängigen und ähnlichen Paragraphen müssen berücksichtigt und untersucht werden (vgl. Claudia Schoppmann, Zwischen strafrechtlicher Verfolgung und gesellschaftlicher Ächtung: Lesbische Frauen im „Dritten Reich“. In: Michael Schwartz (Hrsg): Homosexuelle im Nationalsozialismus. Neue Forschungsperspektiven zu Lebenssituationen von lesbischen, schwulen, bi- und intersexuellen Menschen 1933 – 1945, München 2014, S. 88- – 91).

Das Forschungsvorhaben:

Ausgehend von o.g. Forschungsdesiderata initiierte das Landesnetzwerk LSBTTIQ Baden-Württemberg eine erste Recherche.

Erstmals im deutschen Südwesten wird (stichprobenartig) untersucht, inwieweit lesbische Frauen in den Akten von Psychiatrien auffindbar sind. Positive Ergebnisse sollen als Ausgangspunkt für eine weitergehende wissenschaftliche Forschung dienen.

Vier baden-württembergische Psychiatrien wurden ausgesucht: Die Universitätspsychiatrien Heidelberg und Tübingen sowie die Heil- und Pflegeanstalten Winnenthal und Emmendingen. Dort werden in jeweils drei Jahrgängen der erhaltenen Akten die Eingangs- und / oder Ausgangsdiagnosen daraufhin untersucht, ob sich ein Hinweis auf Einlieferung und / oder Behandlung aufgrund nichtheteronormativer Sexualität belegen lässt.

Erfasst werden die Jahrgänge 1934 (Situation zu Beginn des NS), 1937 (Situation nach Verschärfung § 175 und nach der Gründung der „Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung“) und 1940 (Situation nach Kriegsbeginn und während Euthanasieprogramm).

Das auf vier Jahre angelegte Projekt begann 2019 mit der Sichtung der Heidelberger Akten (die Ergebnisse wurden in einem Artikel des vom Fachverband Homosexualität und Geschichte (FHG) e.V. 2020 herausgegebenen Jahrbuchs Invertito 22 dokumentiert) und wurde 2020 in Tübingen fortgeführt. 2021 werden die Akten der Heil- und Pflegeanstalt Winnenthal untersucht. Mit der Recherche der Akten der Heil- und Pflegeanstalt Emmendingen wird 2022 das Projekt beendet.

Das Forschungsprojekt wird unterstützt durch die Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (2019), die Hannchen-Mehrzweck-Stiftung (2020 – 2022) und die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld (2021 – 2022).

Die Ergebnisse werden quantitativ ausgewertet und der Forschung zur Verfügung gestellt.

Zur Person

Claudia Weinschenk M.A.

Ich studierte Germanistik, Geschichte und Kunstgeschichte in Stuttgart und lebe und arbeite als freie Historikerin in Stuttgart. Fachlicher Schwerpunkte meiner Arbeit sind Frauen- und Geschlechtergeschichte und Alltagsgeschichte.

Referenzprojekte zu vorliegendem Thema:

  • Mitarbeit an der Internetseite „Der Liebe wegen – Von Menschen im deutschen Südwesten, die wegen ihrer Liebe und Sexualität ausgegrenzt und verfolgt wurden“ (2016) (https://www.der-liebe-wegen.org/)
  • Mitarbeit an der vom Sozialministerium Baden-Württemberg beauftragten Wanderausstellung „Sie machen Geschichte – LSBTTIQ-Menschen in Baden-Württemberg“ (Ausstellungseröffnung Ende Juni 2019)
  • Mitautorin des Überblickstextes für den Ausstellungskatalog „Queer in Tübingen“, Stadtmuseum und Stadtarchiv Tübingen (Ausstellungseröffnung voraussichtlich September 2021)

Das Projekt wird gefördert von: